Hallo,
und danke an "Martin".
Noch eine Erklärung zu meinen Zahlen: aus dieser konkreten Baureihe UR-100/UR100NU sind die "Rokots" entstanden. Und diese wurden meines Wissens in Moskau gefertigt. Es gibt auch eine Serienfertigung der Rakete in Dnepropetrovsk sowie weitere Varianten, z.B. UR-100/UR-100U oder UR-100K/UR-100KU. aber wir triften zu sehr in ein eigentlich nicht mehr zum behandelten Start von gestern ab. Das Thema gehört eher zum Komplex Raketen, doch dort finde ich keine neuen Angaben. Oder ich bin nicht fähig, das richtige Suchschema zu finden...
Ja, die Geschichte der -100er ICBM ist kompliziert. Muss man wieder in den 1950er Jahren anfangen, Tschelomej (OKB-52, heute Chrunichew) war damals noch nicht im Geschaeft mit den grossen Raketen taetig, sondern arbeitete an taktischen Waffen (Anti-Schiffsraketen, etc).
Anfang der 1960er Jahre stand die UdSSR, was strategische (interkontinentale Waffen) anging, mit heruntergelassenen Hosen da. Die beruehmten Bomber- und Missile-Gaps, die in den USA die Politik in Aufregung versetzten, gab, es tatsaechlich, nur eben andersum. Praktisch hatte die UdSSR keine Moeglichkeit, einen Gegenschlag gegen die USA auszufuehren. Die Bomberflotte war klein und hatte bei der politischen Fuehrung keine grosse Unterstutzung, und die R-7A war, militaerisch gesehen, ein sehr teurer Schuss in den Ofen (diese Situation trug entscheidend zum Entstehung der Kuba Krise bei). Auch der Nachfolger R-9A aus dem Hause Koroljow (OKB-1) war nur etwa auf dem technischen Stand der Atlas-E/-F. Das einizge Buero, dass eine einigermassen einsatzfaehige ICBM zu Stande brachte, war Juschnoje (OKB-586) mit der R-16 (welche uebrigens einen noch gefaehrlicheren Oxidator einsetzte: IRFNA - rotrauchende Salpetersaeure).
Zu diesem Zeitpunkt (1962) gab die sowjetische Regierung die Entwicklung 4 neuer ICBM Typen in Auftrag, um das Problem zu loesen und den Amerikanern (hier vor allem der Minuteman, welche den Sowjets den Schlaf raubte) etwas entgegenzusetzen. Eine leichte feststoffgetriebene ICBM als Gegenstueck zur Minuteman, eine schwere ICBM als Ersatz fuer die R-16, eine ueberschwere ICBM fuer einem 50MT+ Sprengkopf und eine orbitale ICBM.
Die feststoffgetriebene ICBM ging an OKB-1, wurde auch ein Desaster und beendete OKB-1 Aktivitaeten im ICBM Geschaeft - allerdings wurde das Projekt Ende der 1960er an ein anderes Buero uebergeben - das heutige MITT in Moskau, und bildete den Grundstock fuer die meisten sowjetischen Feststoff ICBM bis heute, also bis hin zur Topol-M Familie.
Die schwere ICBM ging an Juschoje (R-36), ebenso die orbitale Rakete (wurde eine Subvariante der R-36 - die R-36O) und die ueberschwere ging an den Newcomer im Geschaeft, Tschelomej (die UR-500, spaeter Proton).
Da das RT-2 Programm (die leichte Feststoffrakete) allerdings auf grosse technische Huerden stiess, gab man dann zwei Backup-Projekte fuer leichte Raketen mit fluessigen Treibstoffen 1963 in Auftrag - die UR-100 (ging an Tschelomej) und die
UR-200 R-38 (Jangel). Da man aber befuerchtete, das Jangel mit der R-36 und dem neuen Projekt ueberlastet sei, strich man die UR-200 und Tschelomej hatte mit der UR-100 den Jackpot gewonnen.
Die Entwicklung der UR-100 verlief auch weitgehend problemlos und Tschelomej liess seiner Erfahrungen aus dem Bereich der Anti-Schiffsraketen einfliessen. So wurden die fertigen UR-100 schon im Werk in spezielle Startkanister verpackt und so gut konserviert in die Silos eingebracht. Ab 1966 wurde 990 der UR-100 Raketen in Silos ueber die ganze Sowjetunion verteilt stationiert, also ein gigantischer Auftrag. Die Rakete wurde tatsaechlich zum sowjetischen Gegengstueck der Minuteman (wenn auch andere Treibstoffe genutzt wurden).
Jangel war darueber aber nicht sonderlich gluecklich und lobbiete mit einem Think Tank (ja, gab es auch in der Sowjetunion), dass diese 2. Generation von Raketen immer noch nicht das Optimum sei und man eine neue Generation brauche. Das war 1968, waehrend die Stationierung der UR-100 und R-36 noch lief. Die Raketentruppen waren gar nicht gluecklich, das man ihnen schon wieder eine neue Systeme aufdraengen wollte. Nur war der Kunde dort eben nicht Koenig und es kam tatsaechlich zur Auschreibung fuer einen UR-100 Nachfolger.
Jangel beteiligte sich mit der MR-UR-100 und Tschelomej liess sich nicht lumpen und schickte gleich zwei Raketen in Rennen - eine modernisierte Version der UR-100, die UR-100K sowie eine voellige Neuentwicklung, die UR-100N (die verwirrenden Bezeichnungen waren damals Mode und sollten wohl Entscheidungstraeger gnaedig stimmen - "nein, ist keine teure Neuentwicklung, nur ein leichtes Upgrade..." - siehe TU-22 / TU-22M oder R-36 / R-36M).
Und tatsaechlich wurde ein Testflugprogramm fuer alle 3 Programme genehmigt und ein erbitterter Wettstreit zwischen den Bueros entbrannte, auch bekannt als kleiner Buergerkrieg zwischen den Entwicklern. Auch bei Abschluss des Testflugprogrammes gab es keine Entscheidung, und zum loesen der festgefahrenen Situation wurden die Beteiligten zu einem kleinen Gipfeltreffen auf Stalin's alten Anwesen auf der Krim eingeladen, Brezhnew sass dem ganzen persoenlich vor. Ergebnis: Alle drei Raketen wurden gebaut und stationiert. Jangel bekam zeitgleich ausserdem auch noch den Auftrag fuer eine neue schwere ICBM, der R-36M.
1971 erreichte die UR-100 ihre maximale Stationierungszahl von 990 Raketen, ein Jahr spaeter begann man schon wieder mit der Ausmusterung und Umbau der Silos fuer die neuen Raketen. Aus der einheitlichen leichten ICBM Flotte wurden nun drei, mit der dreifachen Infrastruktur, mit jeweils unterschiedlich zu schulenden Personal, Transporteinrichtungen, Erstatzteilen, Testanlagen etc...
Tschelomejs UR-100N stiess in der operativen Phase dann aber auf Schwierigkeiten, und es taten sich weitere Risse zwischen seinem Buero und den Entscheidungstraegern auf. Starke Pogo-Schwingungen, welche waehrend der Entwicklungsphase nicht entdeckt wurde, reduzierten die Treffgenauigkeit erheblich und die Flotte von nun 360 Raketen musste teuer nachgeruestet werden.
Aber da kam schon wieder die naechste Phase der Entwicklung. Ungluecklich mit der Treffgenauigkeit und Ueberlebensfaehigkeit der ICBM Flotte wurde ein neues Programm fuer alle ICBM in Auftrag gegegeben, zu deutsch in etwa Massnahmen zur Kampfwertsteigerung mit dem russischen Kuerzel UTTH. Die exisitierenden Raketen wurden aber nicht einfach nachgeruestet (die Neuentwicklungen betrafen bei allen Systemen im wesentlichen den MIRV Bus und die Silos), sondern es wurden ab 1975er Jahre komplett neue Raketen gebaut, also die UR-100NUTTH, die MR-UR-100UTTH, die R-36MUTTH und die UR-100UTTH.
Diese UTTH's waren dann auch die letzten ICBM's aus dem Buero von Tschelomej, er war bei den militaerischen Entscheidern und besonders Ustinow (der Verteidigungsminister, nicht der Schauspieler) nicht mehr gern gesehen und wurde aus dem Geschaeft gedraengt (ICBM's, nicht Raumfahrt). Ab Ende der 1980er Jahre begann dann auch die Ausmusterung der UR-100NUTTH und 60 waren zum Ende der Sowjetunion bereits durch Jangels neue Feststoff ICBM RT-23UTTH ersetzt (Gegenstueck zur amerikanischen MX). Heute stehen schaetzungsweise noch 30 UR-100NUTTH in Dienst, alle in Tatischchewo.
Alle Auftraege nach der UTTH Phase gingen entweder an Jangel oder das MITT - und fuer die aktuelle Sarmat ueberraschenderweise an Makejew. Auf jedenfall ist mit der Entwicklung letzterer die Zukunft fuer UDMH und NTO als Treibstoffe fuer die naechste Dekade (und wahrscheinlich darueber hinaus) gesichert.
Einen zeitlichen Ueberblick mit jaehrlicher Aufschluesselung zu den sowjetischen ICBM gibt es hier:
http://russianforces.org/podvig/2008/06/the_window_of_vulnerability_that_wasnt.shtml