Russische Raumfahrt – Blick auf Raumfahrtindustrie durch einen allgemeinen Blick auf die arbeitende Bevölkerung und die Gesellschaft.
Gestern habe ich auf BR alpha ein Interview mit Wladimir Kaminer gesehen, wo es am Beispiel seiner Person um den Transformationsprozess ab dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging.
U.a. hat er zum Schluss der Sendung eine Metapher über die Geheimnisse des russischen Kühlschranks benutzt, um von der alten Sowjetzeit in die aktuelle russische Gesellschaft zu springen.
Das hat mich an einen Artikel erinnert, den ich vor ein paar Wochen gelesen habe.
T. Wojewodina – Das Kind des Niedergangs
http://vineyardsaker.de/2017/06/13/t-wojewodina-das-kind-des-niedergangs/Beim oder nach dem Lesen der ersten Zeilen könnte schnell der Verdacht aufkommen, dass das OT bezüglich russische Raumfahrt ist – ABER ca. in der Mitte des Textes wird darauf schon Bezug genommen.
Zitat:
„Ein Angestellter der Weltraumbranche gab vor kurzem zu: es ist nicht klar, was passieren soll, wenn die Alten sterben, welche noch etwas konnten.“Dieser Satz bringt in vielerlei Hinsicht die Sache auf den Punkt. Der Text davor und danach zeichnet entsprechend einen Rahmen in dem das Thema eingebettet ist.
Worauf basiert denn die jetzige russische Raumfahrt?
Auf einer intellektuell – materiellen Basis, die in den 70er/80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gelegt wurde und die nun immer mehr ausgesogen wird. Natürlich gibt es zahlreiche NEUE PROJEKTE und ENTWICKLUNGEN. Aber die stellen nicht die tragende Säule, der Substanz dar, die jetzt in den letzten Zügen ausgesogen wird.
Wenn man von einer durchschnittlichen industriellen Lebensarbeitszeit von ca. 40 Jahren ausgeht, so wird klar, dass aktuell die letzte Generation des vorgenannten Zeitraumes im Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess begriffen ist und die junge Generation aus den 90ern - nun in der Blüte des Arbeitslebens stehend – nachrückt. Das wäre ja eine ausgesprochen normale Situation. Nur, aus dieser 90er Generation haben sehr sehr viele Spezialisten das Land verlassen oder eine grundsätzlich andere insbesondere nichtindustrielle berufliche Laufbahn eingeschlagen, womit sie dem Fortbestand des Spezialistentums nicht zur Verfügung standen bzw. stehen.
Zur Raumfahrt gehört ja auch eine entsprechend breite industrielle Basis, die ich hier gleich mal um die Luftfahrtbranche und die allgemeine Hochtechnologie erweitern will.
Damit ist dann auch eine zugehörige kontinuierliche theoretisch-praktische (Aus)Bildung und Einbindung der neuen Generation gegeben. Interdisziplinäre Durchmischung, Querein- und Ausstieg mit Erfahrungstransfer etc. – also alles was eine ordentliche industrielle Basis ausmacht.
Daraus folgen dann ja erwartungsgemäß auch Produkte, die verkaufbar sind und zu denen es eine entsprechende Nachfrage gibt. Das bezieht sich auf einen allgemeinen Markt.
Die Raumfahrtbranche ist aber kein allgemeiner Markt. Sowohl in Angebot als auch Nachfrage kommen hier starke (nationale oder politische) Monopolisierungen zum Tragen (was natürlich auch nichtrussische Raumfahrt betrifft).
Damit kann der „alte“ Bestand an Spezialisten noch in Lohn und Brot gehalten werden und verliert seine Fähigkeiten nicht zu schnell.
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Es gab und gibt ja auch auf anderen Gebieten immer mal wieder Strukturwandel/Deindustrialisierung etc. und das auch in anderen Ländern. Unmittelbar geht da natürlich viel verloren. Erfolg haben regelmäßig Regionen oder Gesellschaften, die das intellektuell/industrielle Potential frühzeitig und vor allem kontinuierlich in Alternativen bringen. D.h. die Leute nicht nur persönlich für ihr Schicksal verantwortlich machen und motivieren jetzt ihr neues Glück zu suchen, sondern wo durchaus „von oben“ Strukturen geschaffen werden, da etwas zu kompensieren. Über den nicht so hohen Wirkungsgrad solcher Aktionen bin ich mir auch im Klaren. Aber damit wird erst mal eine Richtung vorgegeben und so mancher zum Glück gezwungen.
Die russische Raumfahrt befindet sich aus meiner Sicht in einem sehr starken Strukturwandel auf allen Ebenen. Bisher ist da noch was bei rausgekommen – aber die Luft bezüglich Projektrealisierbarkeit wird dünner.
Bei der Gesamtbetrachtung und z.B. Bewertung der aktuellen und zukünftigen Projektrealisierungsfähigkeiten sollte man auch die „relative Schwäche“ der ESA und Nasa sehen.
Wie meine ich das? Zum Beispiel: Russland ist ja z.Z. Hauptauftragnehmer für Personentransporte ins All und zurück. Diese Situation hat sich durch eine „relative Schwäche“ der westlichen Vertragspartner ergeben. Die relative Schwäche ist an dieser Stelle natürlich auch durch die westliche Überlegung und Option, diese Leistung outsourcen zu können und damit aus ihrer Sicht Vorteile zu generieren, gefördert worden. Diese Betrachtung ergibt sich u.a. auch aus dem Vergleich der geplanten Projekte und „Zukunft“ von ESA und Nasa aus dem wie o.g. Vergleichszeitraum der 80er Jahre. D.h. theoretisch könnten die das natürlich – es gibt aber praktische Gründe warum sie das nicht machen („Fertigungstiefe“).
Das Ganze kann man auch am Aufbau und Betrieb der ISS sehen.
Als vor 2-3 Jahren sehr konkrete Diskussionen über das Ende des Weiterbetriebs der ISS bzw. russische Alternativen (eigene Station) anfingen, wurde damit auch offensichtlich, dass es da aus meiner Sicht keine realistische Planung gibt. Ich meine das im Sinne einer Generalstrategie, die dann Top – Down in Einzelprojekte runtergebrochen wird. Raumschiffe, Module, Unterstützungssatelliten und nicht zuletzt Trägerraketen und ihre Startplätze.
Natürlich ist auf jedem dieser Einzelgebiete was im Gange. Aber die Verschieberittis ist da auch am Wachsen. Träger wechseln bzw. deren Nutzlasten. Hersteller oder Verantwortlichkeiten sind parallel vergeben oder nicht so richtig…
Wollte man nun warten, bis sich ein klares Bild ergibt, wäre der Zug endgültig abgefahren. So werden immer mal kleine und große Aufträge vergeben um grundsätzlich in die Zukunft zu arbeiten. Das ist auch wichtig, denn damit komme ich wieder auf die intellektuell/materielle Basis zurück: sonst würde da noch mehr verloren gehen.
Weiter lässt sich der Bogen auch zur Mond- und Planetenforschung spannen. Ohne nennenswerte westliche Kooperation gibt es da denke ich gar keine Projekte mehr.
In den nächsten 10 Jahren müsste dann ein vollständiger Generationswechsel von industriellem und Betriebspersonal, Träger (R7, Proton), Raumschiffen und Startplätzen erfolgen. Das kann Dimensionen annehmen, die einem kompletten Neuaufbau der russischen Raumfahrt entsprechen.
Und das kostet Geld, Zeit und menschliche Anstrengungen. Und das Ganze unter den aktuell gegebenen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen! (Die Flankierung durch die beiden ökonomischen Randbedingungen Ölpreis und Korruption nenne ich hiermit, gehe aber nicht weiter darauf ein.)
Frage: Kennt jemand eine russische Person oder Gruppe, die hier als Visionär oder Führungskraft das vorantreiben sollen? Mir fällt Niemand ein.
Ein nationale Vision oder Aufbauwerk, mit der Einzelinteressen kanalisiert und auf eine gemeinsame Hauptrichtung gebracht werden können sind nicht mehr zu erwarten.
Damit ziehe ich eine nicht gerade positive Bilanz – entspricht aber meiner aktuellen Sichtweise und der o.g. Artikel setzt das in einen aktuellen gesellschaftlichen Zusammenhang.
dksk