Also irgendwie steckt mir in dem Artikel von Eugen Reichl doch etwas zuviel Klischee. Alles schon x-mal gehört. Schon in den 90er Jahren hieß es, daß die Unternehmen ausgeblutet seien, weil die erfahrenen Ingenieure und Produktionsarbeiter entweder in Rente gingen oder sich besser bezahlte Jobs suchten. Und die Mär vom Suff am Arbeitsplatz ist scheinbar auch nicht auszurotten.
Tatsächlich häufen sich in der russischen Raumfahrt seit Monaten die Probleme. Das Qualitätsmanagement ist sicherlich noch nicht auf höchstem Niveau angekommen. Doch wie im ganzen Land ist eben auch in der Raumfahrt nicht jede Reform ein Erfolg gewesen und manche Strukturen wurden nun schon mehrfach reorganisiert. Da gibt es noch immer Bereiche in Zuständigkeit des Militärs, in denen Wehrdienstleistende zum Einsatz kommen. Anderes wurde privatisiert. Immer wieder greift die Politik mit merkwürdigem Aktionismus in die Strukturen ein. Dem russischen Raumfahrtprogramm täte m.E. etwas Ruhe und Kontinuität gut. Und eine Finanzierung, die auch mal wieder ein paar Erfolge abseits der kommerziellen Starts von Proton und Sojus zuläßt. Die Ansätze dafür sind immerhin da.
Kritisch sehe ich persönlich die Abwendung von traditionellen Zulieferern in z.B. der Ukraine. Die sind in den 60er bis 80er Jahren nicht nur wegen des Proporz innerhalb der UdSSR gewählt worden, sondern weil sie fähig waren. Manchmal eben auch fähiger als vergleichbare russische Unternehmen.
Festzuhalten bleibt, daß es auch in der westlichen Raumfahrt immer wieder Pannenserien gibt. Was war 1986 für ein rabenschwarzes Jahr für die USA! Wieviele verklemmte Antennen und Solarpanels hatten wir allein dieses Jahr? Die Versicherer können ein Lied davon singen. Und 50% der letzten Ariane Kampagnen waren auch von Problemen geplagt, die es früher so nicht gab. Komischerweise nach diversen Kostensenkungsprogrammen.
Die russischen Unternehmen sind sich sicher vieler ihrer Probleme durchaus bewußt. Woher kommt wohl der Kampf um die großen Aufträge für neue Träger und Raumschiffe? Mit dem Geld dafür könnte man auch bessere Gehälter zahlen. Wenn man ein wenig googelt, findet man übrigens diverse Stellenausschreibungen russischer Raumfahrtunternehmen. Demnach liegen die Ingenieurgehälter etwas unter-, manchmal aber auch oberhalb des statistischen Durchschnittseinkommens. Für uns hier unvorstellbar (andererseits was ist mit der hiesigen "Generation Praktikum" unter den Ingenieuren?), aber in Rußland verdienen Ingenieure traditionell nunmal schlecht. Änderungen an diesen Verwerfungen aus der Sowjetzeit brauchen offenbar viel Zeit. Immerhin bieten die Unternehmen meist überdurchschnittliche Sozialleistungen. Und wer russisch lesen kann und mal in die Online-Ausgaben der diversen Firmenzeitschriften von NPO-PM, OAO Proton-PM und anderen schaut, sieht dort auch viele junge Gesichter.
Soweit ein paar Gedanken von mir. Also eine grundlegende Krise der russischen Raumfahrt sehe ich nicht. Fertigungsprobleme wird es immer wieder geben. Menschliches Versagen ist nie ausgeschlossen. Und auch nach Jahren können konstruktive Defizite schlagartig augenfällig werden, wenn eine Mission tatsächlich mal an die Limits geht. Sorge habe ich immer nur, wenn nach einem Fehlschlag Putin (oder Medwedew) erklärt, dies zur Chefsache zu machen...
Olaf