Es ist zwar schon (fast) alles gesagt, aber noch nicht von mir...
Ich fasse nochmal das (für mich) wichtigste zusammen (alles vorläufig und keine endgültigen Weisheiten, wir müssen für eine endgültige Wertung erst die Untersuchungsergebnisse abwarten):
1. Nach allem was ich mitbekommen habe hat die Atlas 5 in dieser modifizierten Version einschließlich Dual-RL-10-Centaur einwandfrei funktioniert. Wenn sich das auch nach Auswertung aller Telemetrie so bestätigt, kann man das definitiv als Erfolg werten (für ULA).
2. Starliner hat sich nicht sofort oder komplett zerlegt, ist imho grundsätzlich flugfähig, wenn auch noch fehlerbehaftet.
3. Es gab ein Timer oder Timingproblem, so dass Starliner "glaubte" den Insertion-Burn bereits gemacht zu haben.
Das ist ein gravierender Fehler und muss auf jeden Fall gründlich untersucht und behoben werden, bevor wieder ein Starliner abhebt (egal ob mit oder ohne Crew).
4. Da Starliner "glaubte" bereits in einer späteren Flugphase zu sein, haben (so scheint es zumindest) die RCS wild gefeuert, um einen bestimmten Zustand zu erreichen oder mit höherer Präzision zu halten.
Dadurch wurde (zu) viel Treibstoff verbraucht. Ein Anflug zur ISS ist möglicherweise schon wegen des fehlenden Treibstoffs nicht mehr möglich.
5. Der Timer/Timingfehler ist bei Bodentests und allen Simulationen nicht aufgetreten bzw. wurde er nicht erkannt.
Insoweit muss die gesamte Testphilosophie hinterfragt und überarbeitet werden, um möglicherweise sicherzustellen, dass Fehler dieser Art zukünftig bereits bei Tests/Simulationen am Boden erkannt werden.
Offensichtlich gab es bei den Test/Simulationen einen "blinden Fleck", den man beseitigen sollte.
Theoretisch ist es nicht auszuschließen, dass es weitere unbekannte Fehler gibt, die sich hinter dem gleichen "blinden Fleck" verbergen.
6. Starliner hat wegen des Timingfehlers "gedacht" bereits in einer ganz anderen Flugphase zu sein.
Offensichtlich gibt es keine Fehlerkontrolle die z.B. über GPS oder eine andere Technik die eigene Position und Lage im Raum erfasst bzw. mit der Timline des Flugs vergleicht.
Andere Raumfahrzeuge, die eine erhebliche Lage- oder Ortsabweichung feststellen, die außerhalb vorgegebener Parameter liegt, gehen in einen Safemode, also einen sicheren Zustand.
Das wäre zwar auch nicht automatisch eine Lösung für die hier aufgetretene Situation, aber dass einfach mit dem Programm an einer unpassenden Stelle weitergemacht wird, kann fatal enden (Wie war das mit Schiapparelli?).
Ein einfaches Abspulen eines fest vorgegebenen Programms ohne Rücksicht auf das was drum herum passiert, konnte man sich noch bei den einfachen Ranger-Sonden erlauben, für das 21ste Jahrhundert eher ein Armutszeugnis.
Man stelle sich vor, Starliner befindet sich im Docking-Anflug auf die ISS und ist noch 5 m entfernt und kommt dank eines Softwarefehlers zu dem Schluss, dass der Insertion-Burn noch nicht stattgefunden hätte und feuert alle Triebwerke mit maximalem Schub...
7. Als Backup für die (fehlerhafte) automatische Steuerung waren anscheinend Kommandos vom Boden aus vorgesehen.
Diese sind wegen fehlender TDRS-Abdeckung bzw. unterbrochener Funkverbindung anscheinend nicht angekommen.
Wenn das wirklich das einzige (automatische) Backup-System sein sollte, dann ist das ziemlich untauglich.
Auch zukünftig zu fordern, für die wichtigsten Flugphasen muss halt immer eine Funkverbindung her, greift m.M. zu kurz.
Selbst wenn die Befehle der Kontroller ankämen, wer garantiert, dass diese in einer heiklen Situation, wenn es um Sekunden geht, immer auf den richtigen Knopf drücken, im Stress den richtigen Klick machen oder sich in der Hektik an die richtigen Codes erinnern?
Natürlich könnte man am Boden ein tatsächlich redundantes (d.h. andere Hardware, andere Software) System mitlaufen lassen, das dann automatisch die richtigen Codes sendet.
Aber eigentlich würde ich so ein redundanten System an Bord des Raumschiffs erwarten.
8. Es wird gesagt, bei einem Flug mit Crew hätte diese die Steuerung übernehmen können.
Das mag sogar stimmen, aber eigentlich erwarte ich ein System, das zumindest mit einem Fehler nicht automatisch in eine gefährliche Situation kommt.
9. Da nicht klar ist, ob dieser Fehler der einzige ist, der bei den vorherigen Tests und Simulationen unerkannt blieb, würde ich es keinesfalls zulassen den Starliner in die Nähe der ISS zu lassen.
Momentan kennt man nur die Auswirkungen des Fehlers, die genaue Ursache und den ganzen Hergang vollständig zu verstehen wird Monate dauern.
Daher sollte man jetzt versuchen die Kapsel geordnet landen zu lassen.
Damit kann man das Landessystem testen und die Kapsel am Boden untersuchen.
10. Sollten alle Fehler gefunden und behoben werden, kann ich mir den nächsten Start mit Crew schon vorstellen, ob allerdings gleich eine längere ISS-Mission eingeplant werden sollte, halte ich zumindest für gewagt.
Viele Grüße
Rücksturz