Nutzen der Lagrange-Punkte für die Raumfahrt

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Offline Ruhri

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Nutzen der Lagrange-Punkte für die Raumfahrt
« am: 29. Oktober 2010, 13:33:13 »
Man hört (und liest bei raumfahrer.net) immer wieder über die Lagrange-Punkte. Ich  habe nun weder ein Studium der Luft- und Raumfahrt noch der Physik vorzuweisen, aber soweit ich das verstanden habe, werden diese jeweils 5 Punkte (L1 - L5) für jeweils zwei größere Himmelskörper berechnet als Gleichgewichtspunkte des eingeschränkten Dreikörperproblems der Himmelsmechanik. Dort heben sich die Gravitationskräfte der beteiligten Himmelskörper auf und jeder der beteiligten Körper ist kräftefrei. John Barnes und "Dr. Rendezvous" Buzz Aldrin lassen in ihrem Roman "Begegnung mit Tiber" einen Kommunikationssatelliten um den L2-Punkt des Erde-Mond-Systems kreisen, um Kontakt zu einer Expedition auf der erdabgewandten Seite halten zu können. Der Lagrange-Punkt wird dabei als "Attraktor" bezeichnet, um den ein Raumfahrzeug wie um eine große Masse kreisen könne. Und wenn Aldrin, der alte Raumfahrt-Kämpe mit entsprechendem Doktortitel, nicht weiß, wovon er schreibt, wer dann?

Ein mir bekannter Physiker bezeichnet die Beschäftigung der Raumfahrtingenieure dagegen als "pure Spielerei", haut mir den Begriff "Attraktor" als völlig falsch verwendet um die Ohren und erklärt mir mit wachsender Begeisterung, dass es sich um labile Gleichgewichtspunkte handelte und eine Sonde ohnehin niemals einen Lagrange-Punkt erreichen könne.

Das letzte wird schon stimmen, nur schickt man meinem Verständnis nach diese Sonden ja auch nicht zu irgendwelchen Lagrangepunkten, um sie dort mit Relativgeschwindigkeit 0 direkt im Punkt zu parken, sondern um sie auf teilweise extrem komplizierten Orbits darum kreisen zu lassen. (Ich vermute sowieso ganz stark, dass besagter Physiker in astronomischen Zeiträumen denkt, obwohl eine Sonde, ein Weltraumteleskop oder ein Kommunikationssatellit gerade einmal Monate bis Jahre im Einsatz sind.) So wie ich das sehe, erzielt man damit zwei Effekte, nämlich einen relativ treibstoffsparenden Kurs mit einer relativ festen Position zu bestimmten Himmelskörpern.

Direkte Vorteile wären also etwa:

  • Gleichbleibende Funkstrecken mit wenig veränderlichen Positionen (für Datenübertragung)
  • Unbeschattete Solarkollektoren für Sonnenteleskope
  • Unterstützende Kühlung durch den Erdschatten für Sternenteleskope

Es gibt natürlich einige offensichtliche Nachteile, wie die Stromversorgung durch Sonnenkollektoren im Erdschatten oder die etwas größere Entfernung (gegenüber dem Erdorbit) und den daraus resultierenden Treibstoffbedarf bzw. geringere Nutzlast. Euch fallen bestimmt noch einige Vor- und Nachteile ein. Lohnt es sich es also, mit Lagrangepunkten zu planen? Die Logik spricht dafür, denn es wird nun einmal gemacht und für Spielereien würden die Ingenieure vermutlich kein Geld bekommen.

Kreuzberga

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Re: Nutzen der Lagrange-Punkte für die Raumfahrt
« Antwort #1 am: 29. Oktober 2010, 15:52:30 »
Hallo Ruhri,

wir haben glaube ich irgendwo einen eigenen Thread zu Lagrange-Punkten bzw. Lissajous-Orbits. Momentan sind bereits einige Raumfahrzeuge in solchen Orbits um den L2 des Erde-Sonne-Systems, z.B. Planck und Herschel, oder befinden sich in Planung (z.B. JWST). Die STEREO-Sonnenteleskope befinden sich bei L4 bzw. L5, wenn ich mich nicht irre - ähnlich wie Trojaner.

Für die Lagrange-Punkte des Systems Erde-Mond kenne ich keine geplanten oder realisierten Projekte. Wenn man allerdings eine Basis o.ä. auf der abgewandten Seite hätte, würde es vielleicht Sinn machen, einen Komsat in Erd-Mond L2 zu stationieren, der Daten zu einem weiteren Sat in L4 weiterleiten könnte, welcher sie zu Erde sendet. Einfacher wäre wahrscheinlich ein polarer Orbit, wenn es nicht wichtig ist, permanenten Kontakt zu haben.

Erd-Mond L1 könnte man für eine Raumstation benutzen, welche als Ausgangspunkt für Missionen zur Mondoberfläche dienen könnte. Oder als Hub für bemannte interplanetare Missionen. Das ist aber alles Zukunftsmusik.

Gruß Timo

edit: Wie Daniel hier schreibt, werden nun zwei der fünf THEMIS-Sonden zum Erde-Mond L2 und L1 entsendet.

Offline Ruhri

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Re: Nutzen der Lagrange-Punkte für die Raumfahrt
« Antwort #2 am: 29. Oktober 2010, 15:56:59 »
Der entsprechende Thread hat sich dann erfolgreich vor der Such-Funktion versteckt. Dafür sollte ich vielleicht einen Hinweis auf den vermutlich ersten Flugkörper zitieren, der jemals um Erde-Mond-L2 gekreist ist. Bitte:

https://forum.raumfahrer.net/index.php?topic=3926.msg162461#msg162461

Kreuzberga

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Re: Nutzen der Lagrange-Punkte für die Raumfahrt
« Antwort #3 am: 29. Oktober 2010, 15:58:43 »
Ha, wir haben den Thread im Bereich Astronomie untergebracht (versteckt  ;)). Hier ist er: https://forum.raumfahrer.net/index.php?topic=1022.0

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Offline Schillrich

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Re: Nutzen der Lagrange-Punkte für die Raumfahrt
« Antwort #4 am: 29. Oktober 2010, 17:25:03 »
Hallo,

für einen Com-Satelliten für die Mondrückseite wäre der Erde-Mond-L2 wahrscheinlich doch besser geeignet als ein polarer lunarer Orbit. Umlaufbahnen um den Mond sind ziemlich instabil und benötigen viel Station-Keeping. Je weiter man von ihm weg ist, desto "besser".

Und, wie Ruhri gefunden hat: 2 Satelliten sind seit diesen Tagen an den Erde-Mond L1 und L2 :).
\\   //    Grüße
 \\ ///    Daniel

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Offline Ruhri

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Re: Nutzen der Lagrange-Punkte für die Raumfahrt
« Antwort #5 am: 29. Oktober 2010, 19:10:55 »
O.k., aber die Frage, die mich umtut, ist je jetzt die nach der Nützlichkeit für die Raumfahrt. Wann bringt es etwas, einen Raumflugkörper um einen Lagrange-Punkt kreisen zu lassen?

Mir ist da vorhin noch eingefallen, vor längerer Zeit gelesen zu haben, dass ein Ingenieur (von der NASA?) die Idee entwickelt hatte, Sondenflugbahnen entlang zu planen, um einen möglichst sparsamen Kurs zu erhalten. Theoretisch gibt es ja allein im Sonnensystem 5 / 2 * b * (b-1) solcher Punkte, wenn man die Anzahl an Himmelskörpern mit b annimmt. Die meisten sind natürlich durch Überlagerungen instabil bis hin zur Nichtexistenz, aber etliche sollten trotzdem übrig bleiben. So steht im oben zitierten Thread, dass New Horizon an einem Sonne-Neptun-Punkt vorbei geflogen ist.

Hier ist übrigens ein Link zur Navigationsidee:

Eine Schnellstraße durch das Sonnensystem

websquid

  • Gast
Re: Nutzen der Lagrange-Punkte für die Raumfahrt
« Antwort #6 am: 29. Oktober 2010, 20:14:50 »
Also, dass New Horizons am Lagrange-Punkt von Neptun vorbeifliegt ist eher Zufall, weil die Planeten Neptun, Jupiter und (Zwergplanet) Pluto gerade passend stehen.

Dieser "interplanetare Superhighway" ist auch eine Mogelpackung: Es geht nur um Bewegung entlang eines Planetenorbits (bei Genesis nahe des Erdorbits). Interplanetar ist daran gar nichts ;)

mfg websquid

Cosmo

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Re: Nutzen der Lagrange-Punkte für die Raumfahrt
« Antwort #7 am: 03. November 2010, 23:05:34 »
Hallo an alle,

Ein paar Anmerkungen von mir zum Thema Lagrange-Punkte:
Dort heben sich die Gravitationskräfte der beteiligten Himmelskörper auf und jeder der beteiligten Körper ist kräftefrei.
Fast, es heben sich die Gravitationskräfte und die Zentrifugalkraft auf ;). Und die Himmelskörper sind nicht kräftefrei, sondern nur der masselose Körper in dem Lagrange-Punkt.

John Barnes und "Dr. Rendezvous" Buzz Aldrin lassen in ihrem Roman "Begegnung mit Tiber" einen Kommunikationssatelliten um den L2-Punkt des Erde-Mond-Systems kreisen, um Kontakt zu einer Expedition auf der erdabgewandten Seite halten zu können. Der Lagrange-Punkt wird dabei als "Attraktor" bezeichnet, um den ein Raumfahrzeug wie um eine große Masse kreisen könne. Und wenn Aldrin, der alte Raumfahrt-Kämpe mit entsprechendem Doktortitel, nicht weiß, wovon er schreibt, wer dann?
So verkehrt ist das nicht, auch wenn es wissenschaftlich gesehen falsch ist. Ich denke man sollte hier das Wort Attraktor nicht überbewerten, vielleicht hat Buzz es lediglich auf einfache Art und Weise umschreiben wollen (ich kenne den Originaltext nicht).

Ein mir bekannter Physiker bezeichnet die Beschäftigung der Raumfahrtingenieure dagegen als "pure Spielerei", haut mir den Begriff "Attraktor" als völlig falsch verwendet um die Ohren und erklärt mir mit wachsender Begeisterung, dass es sich um labile Gleichgewichtspunkte handelte und eine Sonde ohnehin niemals einen Lagrange-Punkt erreichen könne.
;D Wie ich bereits sagte, wissenschaftlich gesehen ist "Attraktor" falsch, kein Wunder das ein Physiker hier Einspruch erhebt, völlig zurecht. Aber "pure Spielerei" ist das sicher nicht, dazu sollte der gute Physiker vielleicht mal einen Blick in die reale Welt werfen. Dann wird er nämlich feststellen, dass es bereits mehrere Raumfahrt-Missionen zu den Lagrange-Punkten gab und gibt. Ausserdem sind nur die Lagrange-Punkte L1 bis L3 instabil, L4 und L5 sind stabil.

Das letzte wird schon stimmen, nur schickt man meinem Verständnis nach diese Sonden ja auch nicht zu irgendwelchen Lagrangepunkten, um sie dort mit Relativgeschwindigkeit 0 direkt im Punkt zu parken, sondern um sie auf teilweise extrem komplizierten Orbits darum kreisen zu lassen.
Man kann auch keinen (3-D) Körper in einem (1-D) Punkt parken ;). Selbst wenn, was macht man dann mit weiteren Satelliten?


Mir ist da vorhin noch eingefallen, vor längerer Zeit gelesen zu haben, dass ein Ingenieur (von der NASA?) die Idee entwickelt hatte, Sondenflugbahnen entlang zu planen, um einen möglichst sparsamen Kurs zu erhalten.
Das sind die sogenannten Manifolds der Lagrange-Punkte, entlang derer man sich bewegen kann (vergleichbar mit Orbits). Es gibt stabile und instabile Manifolds, und sie führen immer von den Lagrange-Punkten weg bzw. hin. Das interessante ist nun, dass viele Manifolds der vielen verschiedenen Lagrange-Punkte sich an bestimmten Stellen berühren und man dort mit sehr wenig Energieaufwand (delta-v) von einer Manifold in eine andere wechseln kann. So kann man halt auch reisen, dauert nur etwas länger. Dafür kann man mit weniger Energieaufwand von a nach b kommen als mit dem als ideal geltenden Hohmann-Transfer.
Und der NASA Ingenieur den du meinst ist sicher entweder Koon, Lo, oder Marsden (die drei haben auch ein schönes Buch über Dreikörperproblem, Lagrange-Punkte und Manifolds geschrieben). Wobei man hier fairerweise auch den Namen Belbruno erwähnen sollte.

Dieser "interplanetare Superhighway" ist auch eine Mogelpackung: Es geht nur um Bewegung entlang eines Planetenorbits (bei Genesis nahe des Erdorbits).
Auch wenn du am Beispiel der Genesis Mission sicher recht hast, aber diesen interplanetaren Superhighway gibt es. Allerdings muss man zwischen den Manifolds von z.B. Erde-Sonne L2 und Mars-Sonne L1 noch einen klassischen Transfer einlegen, da diese sich nicht direkt berühren (soweit ich weiss).


Gruss
Cosmo

Offline Ruhri

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Re: Nutzen der Lagrange-Punkte für die Raumfahrt
« Antwort #8 am: 03. November 2010, 23:37:58 »
Fast, es heben sich die Gravitationskräfte und die Zentrifugalkraft auf ;). Und die Himmelskörper sind nicht kräftefrei, sondern nur der masselose Körper in dem Lagrange-Punkt.

Noch einmal ein "fast": Der dritte Körper hat ja schließlich durchaus Masse, auch wenn diese im Vergleich zu den anderen beiden wirklich zu vernachlässigen ist. :)

Zitat
So verkehrt ist das nicht, auch wenn es wissenschaftlich gesehen falsch ist. Ich denke man sollte hier das Wort Attraktor nicht überbewerten, vielleicht hat Buzz es lediglich auf einfache Art und Weise umschreiben wollen (ich kenne den Originaltext nicht).

Ich kenne leider auch nur die deutsche Fassung. Das Umkreisen eines Lagrange-Punktes funktioniert zumindest, wie etliche Missionen beweisen. Einen beliebigen anderen Punkt im Weltraum zu umkreisen, dürfte mit erheblich höherem Treibstoffbedarf verbunden sein, oder?

Zitat
;D Wie ich bereits sagte, wissenschaftlich gesehen ist "Attraktor" falsch, kein Wunder das ein Physiker hier Einspruch erhebt, völlig zurecht. Aber "pure Spielerei" ist das sicher nicht, dazu sollte der gute Physiker vielleicht mal einen Blick in die reale Welt werfen. Dann wird er nämlich feststellen, dass es bereits mehrere Raumfahrt-Missionen zu den Lagrange-Punkten gab und gibt. Ausserdem sind nur die Lagrange-Punkte L1 bis L3 instabil, L4 und L5 sind stabil.

Dies natürlich nur theoretisch, da die Wirklichkeit nun einmal erheblich komplizierter ist als so ein "triviales" Drei-Körper-Problem. Hauptsächlich werden Missionen bislang allerdings zu den instabilen Punkten L1 und L2 geschickt.

Zitat
Man kann auch keinen (3-D) Körper in einem (1-D) Punkt parken ;). Selbst wenn, was macht man dann mit weiteren Satelliten?

Man könnte den Punkt im Körper parken. ;)

Sinn macht das aber auch nicht, da ein Orbit üblicherweise durchaus reicht.

Zitat
Das sind die sogenannten Manifolds der Lagrange-Punkte, entlang derer man sich bewegen kann (vergleichbar mit Orbits). Es gibt stabile und instabile Manifolds, und sie führen immer von den Lagrange-Punkten weg bzw. hin. Das interessante ist nun, dass viele Manifolds der vielen verschiedenen Lagrange-Punkte sich an bestimmten Stellen berühren und man dort mit sehr wenig Energieaufwand (delta-v) von einer Manifold in eine andere wechseln kann. So kann man halt auch reisen, dauert nur etwas länger. Dafür kann man mit weniger Energieaufwand von a nach b kommen als mit dem als ideal geltenden Hohmann-Transfer.
Und der NASA Ingenieur den du meinst ist sicher entweder Koon, Lo, oder Marsden (die drei haben auch ein schönes Buch über Dreikörperproblem, Lagrange-Punkte und Manifolds geschrieben). Wobei man hier fairerweise auch den Namen Belbruno erwähnen sollte.

Der Link steht oben, und es war in der Tat Martin Lo.

Zitat
Auch wenn du am Beispiel der Genesis Mission sicher recht hast, aber diesen interplanetaren Superhighway gibt es. Allerdings muss man zwischen den Manifolds von z.B. Erde-Sonne L2 und Mars-Sonne L1 noch einen klassischen Transfer einlegen, da diese sich nicht direkt berühren (soweit ich weiss).

Aber funktionieren würde es? Kennt jemand eine Mission (außer Genesis), die damit geflogen ist oder fliegen soll?

Was die bisherigen L1- und L2-Missionen angeht, liege ich da richtig mit den Vorteilen? In erster Linie geht es meines Erachtens darum, die Flugkörper relativ zur Erde in einem festen Raumbereich zu parken, wobei die Nachteile des Erdorbits, nämlich die Verdeckung durch die Erde selbst, vermieden werden können.